Bühne

„Die Brüder Karamasow“: Johan Simons bringt den Dostojewski-Klassiker auf die Bühne

bis 26.05.2024
Veranstaltungsort
Schauspielhaus Bochum
Im Porträt: Schauspielhaus Bochum
Der große Psychologe und Gewissens-Kundschafter, Künstler der Krise, der Leiden und des schroffen Humors war ein „Vertrauter der Hölle“, um Thomas Mann zu zitieren. In Bochum erweist sich Fjodor Michailowitsch Dostojewski zudem als Bruder von Gorki und Tschechow.

Seine zugleich National- und Weltliteratur ist immer auch theologische Schrift, die die Natur des Menschenwesen umkreist sowie die Paradoxien von Gut und Böse, Gefahren des Skeptizismus, die Fragen nach Unsterblichkeit, Schuld, Selbstverachtung, Vergebung und Erlösung, die nur bedingungslose Liebe zu Gott und dem Menschen gewährt.

Nicht zuletzt spiegelt „Die Brüder Karamasow“ die Sonderbeziehung zwischen Deutschland und Russland, ihren historischen Wurzeln, furchtbaren Menschheitsverbrechen im 20. Jahrhundert und politischen Wirkungen, Erblasten und Fehldeutungen bis in die akute Gegenwart. Was auch zu tun hat mit unseren eigenen Perioden der Perversion und Abkehr von einem liberal freiheitlichen, demokratisch und ethisch verfassten Staat und seiner Gesellschaft und was seit Putins Überfall auf die Ukraine neu virulent ist.

Das „kolossale Drama“ erkannte Thomas Mann zudem in dem Buch, wie in allen  Romanen des Russen. Johan Simons transponiert über weite Strecken das Dramatische zurück in ruhig strömende Gedankenflüsse und szenische Begegnungen – es gibt eben auch einen Extremismus des Unaufwendigen. Das Beiläufige schafft hier erst die Voraussetzung für die Intensität der konzertierten Aktionen, bei denen, wie einzelne Nervenstränge und Muskelfasern, emotionale Zustände und Charakteraufrisse herauspräpariert werden.

 Die sieben Stunden, ihre mal legeren, mal scharf gezogenen Phasen der Erzählung, die Wanderung durchs Theater – Großes Haus, Kammerspiele, Foyers – samt Pausen und Jause führen vom Tag zur Nacht. Wie sich in dem Roman selbst die philosophische Idee findet, dass die Extreme sich berühren, der für die Beschäftigung mit Dostojewski ein elektrisierender Impuls sein kann, so wiederholt sich dies auch in der Wende von Wachsein zur Erschöpfung, von der Weite in die Verdichtung, von Komik zu elegischer Verfasstheit.

Johan Simons gestaltet den Aufruhr der Herzen und Hirne in einer reichen Fülle von Form und Farbe.

Der „Sündenpfuhl“ und Freudenort Leben ist Heimat aller Figuren. Im Zentrum stehen Ivan, Dimitrij und Aljoscha sowie ihr Vater Fjodor, der ermordet wird – ohne dass klar wird, wer die Tat beging. Pierre Bokma spielt den Alten hochpräsent, jovial-schlampig und ebenso abgefeimt wie lästerlich und raffiniert närrisch. Sein unehelicher Sohn und Stiefbruder der Drei, Smerdjakow, fristet als Diener im Haus des verhassten Erzeugers sein Dasein: Oliver Möller hantiert beständig im Küchendienst, um etwa Kohlköpfe zu halbieren, als wolle er sie massakrieren. Schließlich sind da die an Leib und Seele versehrte und mit sich selbst verfeindete Lise (Danai Chatzipetrou) mit ihrer resoluten Mutter und als Kontrastbild die erotische Freibeuterin Gruschenka (Anne Rietmeijer).

Die Brüder repräsentieren, verknappt gesagt, drei Prinzipien. Ivans spöttischen Intellekt stattet Steven Scharf mit vibrierendem Gleichmut aus: ein Duellant, der kurz vor dem tödlichen Schusswechsel lächelt. Dimitrij verkörpert Leidenschaft und obsessive Lust und hat bei Victor Ijdens rührende Robustheit und leuchtende Schicksalsgefasstheit. Während einer seiner affektiven Attacken singt Nancy Sinatra ihr „Bang Bang“. Aljoscha, den Jüngsten in seiner Glaubenstiefe, führt Dominik Dos-Reis als gereiften Kindskopf und aufgeweckten Träumer durch seine Ich-Suche, als würde er mit jedem Schritt bei sich selber anecken. Geleitet dabei von der Klosterfrau, der Stariza (Elsie de Brauw), in ihrer schlichten Heilsgewissheit.

 

Die große Bühne ist ein von Podesten gegliederter, mit Ikonen, Kerzen und gestürzten Zwiebeltürmchen geschmückter White Cube, in dem schwarze  Balken und ein Kanonenofen einen traulichen Winkel schaffen sowie mehrere Videotafeln hinter die Kulissen blicken lassen, die im Anschluss in den  Kammerspielen warten: nämlich als perfekt ausgestattete Küche mit allen Schikanen. Mehr konkreter Lebensraum geht kaum, doch wohnt darin das Abstrakte einer Installation. Für den Simons-Stil behauptet das Artifizielle mehr Realismus, als Abbildung von Wirklichkeit es vermag. Das dritte Bild (wieder zurück im Schauspielhaus) trifft uns dann mit voller Wucht: das Interieur zusammengeräumt, der Boden schneebedeckt. Eine Walstatt der Getriebenen und Gefallenen. Gethsemane im russischen Winter. Ivan und der Teufel vereinen sich zum intimen Privatissimum, das auch dank Elsie de Brauws Madame Luzifer als Grande Illusion der Möglichkeiten schillert.

Jede(r) ist ein Mensch in der Revolte, ob sie sich vehement artikuliert oder still implodiert. Johan Simons gestaltet den Aufruhr der Herzen und Hirne in einer reichen Fülle von Form und Farbe. Prinzip Disharmonie: Da ist etwa Smerdjakow, der bei einem epileptischen Anfall vom Stuhl kippt, während ein Country-Song dudelt; seine Hände zucken, als fingerten sie über die Saiten einer Gitarre. Vater Fjodor schaut ungerührt zu und geht ab, bevor Gruschenka auftritt, die Tür des Kühlschranks aufreißt, worauf grell eine Passage aus Schostakowitschs vierter Sinfonie ausschwappt und diese ‚Maria Magdalena’ wie mit entflammbarer Flüssigkeit übergießt.

Die Aufführung nimmt das Wesen einer hellwachen Séance an, um ganz bei sich zu sein und aus ihrer lauernden Entspanntheit jähe Ekstase, wilde Jagd, kollabierende Gemütsruhe, psychische Blitzgewitter und moralische Absolutismen hervorzubringen.

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„Die Brüder Karamasow“: Johan Simons bringt den Dostojewski-Klassiker auf die Bühne

bis 26.05.2024
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